Fernsehen zum anders Schauen
von Esther Böhlcke
Der Bergdoktor
Wo andere Leute Urlaub machen, unter dem Dachstein in Tirol praktiziert einer unserer zahlreichen und beliebten Fernsehärzte (zwar Österreicher, aber sind die „Ösis“ nicht unsere liebsten Nachbarn?), Dr. Martin Gruber. Als österreichischer Dr. House löst er die geheimnisvollsten Krankheitsrätsel und nebenbei auch noch Familien-Ehe- und sonstige menschliche Probleme seiner Patient*innen. Zehnmal im Jahr seit nunmehr 148 Folgen. Auch ich schau gern zu: alles so schön übersichtlich und vorhersehbar in dieser Welt.
DAS PERSONAL UND SEINE ROLLEN:
DR. MARTIN GRUBER(Gruber bedeutet Schlucht oder Tal, einer der häufigsten Namen in Österreich, wie in Deutschland Müller, Meier; und MARTIN, der Wunderheilige- und Heiler, der seinen Mantel mit den Armen teilte), inzwischen ca. 50 Jahre alt. Sein Heim, der Bergbauernhof, ganz oben auf dem Berg, seine Praxis auf halber Berghöhe.
BRUDER HANS, etwas jünger, der den heimischen Hof betreibt, gelegentlich auch Bergretter.
MUTTER LISBETH, ca. 70, unermüdliche Bewirtschafterin und ewig besorgt um all ihre „Kinder“ und Enkel.
TOCHTER LILLI, mittlerweile ca. 25, immer noch und immer wieder auf dem Hof lebend, biologische Tochter von Martin („Affäre“ mit Hans Frau, die früh gestorben ist !! – von Hans, später von beiden Männern und der Großmutter aufgezogen).
DR. KAHNWEILER und seine Frau DR. Fendrich, Arzt und Freund von Martin, Leiter der Klinik im Tal und ständige Zuarbeiter für Martin (in der Oper wäre es das Buffo/Soubrette-Paar).
Der ARZT, der ARCHETYP: in unseren westlichen Industrieländern, des Heilers auf der hellen Seite dem Heilen verpflichtet, hier orientiert an der Wirksamkeit wissenschaftlich geprüfter Methoden. Aber der Arzt kann auch von der dunklen untergrün-digen Seite erfasst werden: neben Fragen von Geld, Macht, Einfluss, Wirksamkeit, der verwundenden, destruktiven, ja tötenden Dimension der Medizin. Diese wird einerseits um des Heilungs-Ziels, dem Willen von Arzt und Patient in Kauf genommen, und dient andererseits der Verleugnung des unumgänglichen Todes.
Carl Gustav Jung wies in seinen Erinnerungen auf den Schatten des Arztes hin: „Nur wo der Arzt selbst getroffen ist, wirkt er, nur der Verwundete heilt. Wo aber der Arzt einen Persona-Panzer hat(Persona=die Maske, die wir in unserer Berufszugehörigkeit tragen, Eigenschaften, die zugeschrieben werden, wie wir erscheinen mögen in unserer Berufsrolle, sie sollte aber auch, wie eine gut durchblutete Haut, unser Individuelles durchscheinen lassen), wirkt er nicht.
DIE HANDLUNG: In jeder Folge ungefähr derselbe Ablauf: Martin (inzwischen sind wir ja sehr vertraut mit ihm, und wie das beim stetigen Konsumieren solchen Serien ist, fast so etwas wie entfernte Familienangehörige oder Nachbarn, denen wir aus der Ferne oder Nähe zuschauen), der gute Landarzt mit Neurochirurghintergrund, immer bereit, wird zu einem Notfall gerufen und aus oft halbwegs klar erscheinenden Krankheitsbildern wird im Laufe der Sendung etwas immer Gefährlicheres bis Lebensbedrohlichem. Gleichzeitig gibt es bei den Patienten in diesem Zusammenhang eine verwickelte Eh-, Familien, sonstige Krise.
Nun beginnt, wie bei einem guten Krimi – Achtung Spannung! – die Suche nach dem Täter, die Schuldsuche. Nach der „wirklichen“ Krankheit. Der geniale Sherlock Holmes (derDoc), intuitiv, hartnäckig, wissend und seine Gehilfen Watson und Frau (Kahnweiler und Fendrich), die die notwendigen Labor- etc. Arbeiten durchführen, gehen durch eine Suche von evtl. sogar psychosomatischen oder arbeits- oder umweltbedingten Auslösern der Krankheit und landen nach ca. einer Stunde zwanzig Minuten doch immer beim „Bösewicht“: irgendein seltener genetischer Defekt oder eine andere überaus einzigartige Krankheitserregergeschichte, verknüpft mit den individuellen Bedingungen der jeweiligen Patient*innen. So ganz nebenbei ist Dr. Gruber immer auch noch für die persönlichen Kümmernisse da, mischt sich des Öfteren auf eine sehr manipulative oder übergriffige Art ein (der Zweck heiligt dann die Mittel, oder wie Elternfiguren sagen würden „ich habs doch nur gut gemeint“),und dann wirds auch in der Familie, mit dem Paar etc., alles gut.
Daneben wird fortlaufend über die Jahre Familiengeschichte der Grubers mit immer neuen Enthüllungen (Achtung Spannung!) erzählt und natürlich das bewegte Liebesleben der beiden Brüder, auch hier en Muster: selbstbewusste und selbstbestimmte Frau und der Doc (Martin) verlieben sich, beginnen eine Beziehung. Alte Lieben oder die Sorge um den Familienhof lassen länger währende Beziehungen nicht zu. Die Frauen trennen sich nach einiger Zeit. Ähnliches bei Bruder Hans.
Die ganze Familie Gruber scheint gefangen zu sein: in der Vergangenheit. Verschwiegenes, Verdrängtes, Geheimnisse – was sich dann in die Gegenwart drängt, aber keine wirkliche Verarbeitung oder Wandlung der handelnden Personen bewirkt. Martin Gruber bleibt gebunden ( so wie auch die übrigen Familienmit-glieder) an seine Herkunftsfamilie, Mutter, den Hof, das Land -ein vielleicht ursprünglich positiver Mutterkomplex und negativer Vater- komplex (Komplexe – nach C.G.Jung – sind Lebensthemen, in denen Emotionen, die zu diesem Komplexbereich gehören, gebunden sind. Alle Menschen haben Komplexe, es sind verdichtete Lebensthemen. Sie können hemmen, wenn zu viele negative oder schwierige Erfahrungen als Kind gemacht worden sind und bewirken dann, dass immer wieder auf dieselbe stereotype Weise reagiert wird. Sie sind dann Ausdruck von Entwicklungsproblemen, die auch Entwicklungsthemen sind.)Hier bei den Grubers .B. die seelische Ablösung und Selbstwerdung um Beziehungen eingehen zu können. (S. auch Verena Kast unten.)
WAS FASZINIERT, WAS LÄSST UNS IMMER WIEDER DIESE SERIE VERFOLGEN, AUFSUCHEN…?
- der immergleiche Geschehensablauf beruhigt, nach der Aufregung gibt es immer ein gutes Ende
- auch die besten Menschen haben im Privatleben Verwirrungen und Verstrickungen
- wer möchte nicht einen Arzt oder ein Krankenhaus haben, die sich sofort um uns kümmern, ohne Krankenkassen- Budgeteinschränkung Zeitmangel, bei denen wir mit unserem ganzen Sein in der Aufmerksamkeit und im Mittelpunkt stehen
- die „böse“ Welt mit Pandemien, Kriegen, existentiellen Sorgen, Arbeitslosigkeit, erscheint höchstens ansatzweise bei der Familie Gruber, die das allerdings vorbildlich „in der Familie“ löst, wer hat denn nicht das Ideal der Familie als inneres Bild
- wer hätte nicht gern einen Arzt (nicht Ärztin hier, die Serie richtet sich wohl eher an Frauen), der immer ein bisschen besser, intelligenter, findiger, charmanter und liebenswürdiger ist - als womöglich der eigene zuhause.
Ja, die dies hier geschrieben hat, schaut diese Serie auch gern!
ZUM WEITERLESEN: Verena Kast, Vater-Töchter, Mütter-Söhne. Wege zur eigenen Identität aus Mutter- und Vaterkomplexen.