Knotenpunkte im Leben

ANGST

Während ich diese Zeilen niederschreibe, beschleicht mich leise Angst: werde ich überhaupt ausdrücken können, was sich zu diesem Thema in meinem Kopf angesammelt hat? Werde ich mich verständlich machen können? Werde ich rechtzeitig fertig werden? Ist das, was ich schreiben werde überhaupt von Interesse? Die Angst macht sich in einem Unruhegefühl in meinem Körper bemerkbar, das Herz schlägt schneller, die Hand, die schreibt, ist zittrig.

In diesem Fall kann ich meine Angst identifizieren/erkennen, die Fragen tauchen auf: ich kann mich dann mit ihnen auseinander setzen, kann vielleicht sogar erkennen, dass diese zuerst ängstigenden Fragen auch in gleicher oder ähnlicher Weise in anderen Lebenssituationen auftauchen, wiederkehrend sind. Dieser Auseinandersetzungsprozess lässt mich dann frei schreiben. Im Identifizieren, im Betrachten der Angst, im Spüren sehe ich sie als zu mir gehörig, „spiele“ damit, dann wandelt sich das Gefühl, oder ich kann es anders definieren: Herzklopfen und Zittern sind erstmal nur Erregung, die mich auf etwas Unstimmiges in mir aufmerksam macht. Danach kann ich mich vielleicht frei lassen zu schreiben.

Heute begegnen wir immer häufiger der unbewussten oder auch ausgesprochenen Angst. Wenn aus unserem Unbewussten (das personale Unbewusste als Summe der verdrängten und unterdrückten Inhalte) unerkannt z.B. Ängste auftauchen, „bestimmen“ sie unser Verhältnis zu uns und zu den anderen, der Welt.

Sie trennen uns von uns selbst, z.B. die frühkindlichen Ängste vor der existentiellen Zerstörung: das Alleingelassen-Werden in unserem grundlegenden Bedürfnis nach Erkannt-Werden, Hunger, Aggression, Geltung, Wahrnehmung unserer Gefühle von Angst, Zorn, Traurigkeit etc..

Angst vor Veränderung meiner „sicheren“ Alltagswelt ist gleich der Angst vor dem Fremden, Unbekannten, was auch die Angst vor mir selbst sein kann, aber auch/und vor dem/der Fremden, dem anderen Geschlecht.

Angst vor der Überschwemmung meines bewussten Ich durch Naturhaftes (was wir – kulturell – verdrängt haben: Gier, Lust, Aggression), was über m-ich (mein Ich = der Besitz, ein festgemauerter Hort) kommt, m-ich in unbekannte Gefilde schwemmen kann.

Die Angst ist der dichte Schleier, der vor allem Unbekannten hängt. Mein Ich hat ihn hingehängt als Schutz.

Wenn die Angst auftaucht, bewusst wird, habe ich zwei Möglichkeiten: ich kann den Schleier belassen oder ich kann versuchen dahinter zu schauen, ohne Sicherheiten, was sich dahinter verbirgt.

Der Schleier, die Angst, ist vielfältig wirksam: je nachdem wie ich „bin“, ist er fester oder durchlässiger, leichter oder schwerer.

Er verhüllt mich, die Welt sieht mich nur schemenhaft, gleichzeitig sehe ich die Welt nur verzerrt.

Er verstopft, behindert meine Sinnesorgane, mit denen ich die Welt und mich wahrnehme: ich kann nicht frei riechen, sehen, schmecken, tasten, hören.

Er verzerrt meine Fähigkeit zu bewerten: ist mir eine Situation angenehm oder unangenehm.

Er beeinflusst mein Denken als ordnende Funktion: ich kann nicht mehr einordnen, was diese oder jene Erfahrung für eine Bedeutung für mein Leben hat.

Er blockiert meine Intuition, Phantasie: vielleicht träume ich nicht mehr, heißt, erinnere meine Träume nicht, kann daher auch keine Verbindung zu dem persönlichen (und kollektiven) Ur-Grund meines Seins; kann Träume/Wünsche nicht realisieren, ich kann nicht schöpferisch sein.

Angst ist „natürlich“ da, jeder Mensch verspürt Angst und braucht dieses Gefühl. Als identifizierte oder bewusste Furcht kann sie ich z.B. vor Gefahren schützen. Aber ich kann unterscheiden lernen, ob sie mich schützt oder hindert. Vielleicht nehme ich zuerst nur wahr, dass ich Herzklopfen, kalte Füße habe, schwitze, dies als körperlichen Ausdruck des mich Ängstigen. Dann, das erste erkennbare Gefühl wenn die Angst auftaucht, ist Verzweiflung. Ent-zwei, In-zwei-Sein, sich gespalten, getrennt, zerrissen, abgetrennt fühlen.

Ich nehme wohl auch die Forderungen anderer an mich wahr (der Kinder, des Chefs, der Partnerin/des Partners. Mutter/Vater). Danach kann ich mir vielleicht der (An)forderungen bewusst werden, die ich an mich selbst stelle (eine gute Mutter zu sein, ein fleißiger, kluger, pflichtbewusster Arbeiter, gutes Kind, guter Mensch).

Die Gedanken an die Nichterfüllung können mich ängstigen.

Dagegen steht vielleicht der große Bereich meiner Wünsche: will ich etwa zuviel vom Leben, Angesehenwerden, Liebe, Gemeinschaft mit anderen, Geld, Besitz.

Und daneben und darunter, als Grund oder Basis meines Seins in der Welt, existieren die Grundängste und –forderungen vielleicht in Form einer inneren Stimme. Eines Strebens oder Hingezogenseins zur Selbstverwirklichung, Selbstwerdung, wie sie z.B. Fritz Riemann in seinem Buch „Grundformen der Angst“ als Grundformen menschlichen Daseins beschrieben hat:

Die Forderung nach und die Angst vor Einordnung in ein Ganzes, die Welt.

Die Forderung und Angst vor Selbstwerdung ohne die Anderen, ohne um die Anderen als abhängiger Trabant zu kreisen.

Die Forderung nach und Angst vor ständiger Wandlung des Lebens und

Die Forderung nach und die Angst vor Dauer und Bodenhaftung im Leben.

Im Prozess der Identifizierung meiner Ängste, ihrer Betrachtung und Bewertung, im Spiel von Unbewusstem und Bewusstem erhalte ich Vollmacht über mich und Handlungsfreiheit.

Und, ich kann meine Ängste mit anderen ansprechen, besprechen und erleben, dass diese universell sind und mir damit in der Gemeinschaft und Gemeinsamkeit Hilfe zuwachsen kann.

ESTHER BÖHLCKE (1995 und 2022)

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